Ein dunkler Moment (Roman)
Rabea Edel
Ein dunkler Moment Roman
Luchterhand Hardcover 2011, btb 2013
Auf unheimliche Weise ist die Amerikanerin Amanda in zwei elf Jahre auseinander liegende Morde verwickelt. Angelehnt an zwei reale Fälle geht Rabea Edel dieser Verbindung nach und löst Schritt für Schritt das Geflecht von scheinbaren Zufällen und verborgenen Zusammenhängen. In bestechend klaren Bildern erzählt sie die spannende Geschichte eines Mordes und seiner späten Konsequenzen und wirft dabei ein Licht auf die Momente, in denen das Dunkle, Unfassbare aus einem Menschen hervorbricht – und sei es nur für einen kurzen, verhängnisvollen Augenblick.
»Die einzige Wahrheit ist, dass ich mir der Wahrheit nicht sicher bin. Ich war nicht dort.« [Amanda Knox]
Leseprobe:
Ich hatte die Augen geschlossen, als sie sich neben mich auf das Bett setzte, sehr vorsichtig die Hand unter meinen Nacken schob, ihn festhielt und mit einer schnellen Bewegung das Messer von links nach rechts durch meinen Hals zog. Ein roter Sprühregen, der zu einem Fluss auf das Laken wurde, als sie zurückzuckte, das Messer aus der Wunde nahm, und ich die Augen öffnete. Mein Blick traf ihren Blick. Der Schnitt klaffte auf, Luft wurde ins Herz gepumpt, Blut geriet in Nase und Mund. Ich tastete nach meinem Hals, mein Körper krampfte, meine Hand schlug zur Seite und traf sie hart ins Gesicht. Ich sah sie an und mein Blick wurde starr. Sie wartete, bis ich ruhig lag. Dann bettete sie meinen Kopf auf das Kissen, stand auf und zog ihr Kleid zurecht. Atmete ein und aus. Spürte das Senken der Lider über den Augäpfeln, das Zusammenstoßen der Wimpern, ein Zittern in den Knien. Wie die Haut den Stoff ihrer Kleidung berührte, und die Luft ihre nackte Haut. Das leichte Schwanken des Körpers, als sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Mein Blut körperwarm auf ihren Unterarmen, an den Fingern und im Gesicht. Meine Beine waren verdreht, mein Kopf war zur Seite gekippt. Noch eine Weile stand sie vor dem Bett und sah zu, wie die dunklen Flecken auf dem Laken wuchsen, und in diesem Moment ähnelte sie Dir, Billy, mehr als mir. Vorsichtig, wie, um mich nicht zu wecken, nahm sie unser T-Shirt vom Boden auf, wickelte das Messer darin ein und ging hinaus. Im Bad wusch sie sich das Blut von den Händen und aus dem Gesicht, spülte sorgfältig das Porzellanrund des Beckens nach, betrachtete ihr Spiegelbild und erkannte sich nicht. Sie nahm meine Haarbürste aus der Kosmetiktasche, und kämmte ein paar meiner Haare mit in den strammen Zopf, den sie sich hoch auf dem Hinterkopf band. Dann tauschte sie ihr dunkles Kleid gegen mein weißes ein, das ich am frühen Nachmittag ausgezogen und für sie über die Duschstange gehängt hatte, malte mit meinem Lippenstift ihren Mund rot, drehte sich um und zog die Lederjacke an, nahm das eingewickelte Messer und steckte es in die linke Innentasche, faltete ihr Kleid zusammen und schob es in die rechte Innentasche, band sich die Schuhe zu. Ein kurzer Blick aus dem Küchenfenster. Ein paar Vögel in den Ästen der Zitronenbäume auf dem schmalen Rasenstück vor dem Haus. An der Straßenecke ein Mann, der von der Ladefläche seines Wagens herunter Erdbeeren verkaufte. Der graue Bogen der Tangente, die auf Stelzen aufgebockt hinter der Wohnsiedlung in die Stadt mündete, die tiefstehende Sonne, die von den Blechkarosserien und Fenstern der Autos zurückgeworfen wurde. Noch einmal tastete sie nach dem Messer, das Päckchen auf Herzhöhe, nahm dann meinen Pass und den Wohnungsschlüssel, die, wie zuvor verabredet, auf dem Küchentisch lagen. Der Erdbeermann stapelte die letzten Steigen aufeinander und sprang von der Ladefläche. Zwei Kinder mit Palmkätzchen in der Hand rannten an ihm vorbei. Sie wartete, bis sich die Straße vor dem Haus geleert hatte. Dann trat sie hinaus, sah nach rechts und links, und zog die Haustür hinter sich zu. Du wirst sie mögen, Billy, sie wird alles anders machen als ich: Sie wird Dir schreiben und sie wird Dich besuchen, ich habe ihr ein Flugticket gekauft. Es ist der fünfte April zweitausendundneun, kurz nach fünf Uhr am Nachmittag. Ab jetzt wird alles wieder gut.
(…)