das wasser, in dem wir schlafen

Das Wasser, in dem wir schlafen (Roman)

Rabea Edel

Das Wasser, in dem wir schlafen Roman

Luchterhand Literaturverlag 2006, btb 2009.

Die Geburt des Mädchens Lina verändert das Leben ihrer Familie. Während der Vater sich in sein Arbeitszimmer einschließt und die ersten stillen Wettkämpfe der Mädchen beginnen, gibt die Mutter sich anderen Männern hin und verlässt schließlich das Haus am See. Alleine zurückgelassen verschwören sich die Schwestern mit- und gegeneinander. Wer ist die Mutigere, die Begehrenswertere, wer schafft es als erste zu gehen? Als sie beim selben Mann herausfinden wollen, was Liebe ist, treibt das Spiel zwischen ihnen unaufhaltsam auf einen Abgrund zu. Rabea Edel schreibt von Getriebenen, die Waghalsigkeit mit Nähe und Schmerz mit Glück verwechseln. Präzise und hellsichtig seziert sie den fatalen Liebestanz der Schwestern und verleiht diesem Debüt einen seltenen poetischen und erzählerischen Glanz.

Leseprobe:

Meine Schwester wurde auf einem Autobahnrastplatz zwischen zwei halbabgeernteten Weizenfeldern unter den von Vögeln schweren Kabeln der Starkstrommasten gezeugt, die Handbremse scheuerte in Mutters Rücken ein rotes Mal, das durch ihre weiße Bluse leuchtete und das ich eine Woche lang jeden Abend vor dem Zubettgehen mit Coldcreme einschmieren durfte, und als Vater viel zu schnell und mit geöffneten Augen kam, löste sich die Handbremse, und das Auto rollte einige Meter weit, stieß sacht mit der Kühlerhaube gegen den Stamm eines Baumes, der neben den Mülltonnen am Straßengraben seit Jahren dem Wind nachgab und sich krumm und alles andere als elegant in meine Richtung bog und dem Wagen standhielt. Es knirschte, Blech gegen Holz, das Auto blieb stehen, und Vater schloß die Augen.

Meine Mutter hatte alle Fenster hochgekurbelt und mich in den Schatten unter die Bäume gesetzt. Aus den Mülltonnen roch es süßlich. Ein Motorradfahrer bog auf den Parkplatz ein, klappte das Visier des Helms hoch, blieb auf der Maschine sitzen und betrachtete Mutters Handballen, die sie von innen gegen die Scheibe preßte, ihr helles Haar und den in der Autotür eingeklemmten langen geflochtenen Zopf. »Eingeklemmt«, wiederholt Gregor und grinst. »Ja, eingeklemmt«, sage ich und halte seinem Blick stand. Wir sitzen auf der Veranda, Gregor hat seine nassen Kleider gewechselt, die mit Kreppband zugeklebten Fenster und alle Türen geöffnet, bis auf eine im oberen Stockwerk, und während ich von diesem Sommer erzähle, in dem Linas und meine Geschichte begann, im Monat der Schlammfliegen, die sich vom See her über das Dorf und später dann über die ganze Stadt legten, steht Gregor auf und läuft im Kreis auf der Veranda herum wie ein hungriges Tier. »Setz dich«, sage ich, »bitte.« Gregor läßt sich neben mir an der Hauswand herabgleiten, auf den Holzboden fallen und schüttelt den Kopf. Ich strecke ihm meinen pochenden nackten Fuß entgegen. »Was soll das?« »Ich habe mir einen Splitter eingetreten, vorhin«, sage ich. Und während Gregor ohne Widerrede meinen Fuß in die Hand nimmt – »Du mußt ihn raussaugen, schau so«, sage ich und presse meine Lippen auf meinen Handballen – und seinen Mund auf meinen linken Fußballen drückt, weiß ich wieder, daß das Thermometer in der Küche zweiunddreißig Grad zeigte, am frühen Morgen schon, als wir losfuhren, und daß Vater mit dem Fingerknöchel einige Male prüfend dagegenklopfte und wartete, daß es wieder fiele; so unvermutet, zusammenhangslos und weit entfernt dieser Gedanke auch von uns beiden, hier auf der Veranda meines Elternhauses, ist, so unvermutet, weil wir nicht wissen, was wir hier zu suchen haben, was zu tun ist und was zu unterlassen und warum ausgerechnet Gregor und ich, warum gerade wir beide übrig sind. Die Häuser versanken in einem braunen Teppich, der von den Bewegungen der Insekten flimmerte. Sie stiegen von den Algen im See hinter den Schrebergärten auf, setzten sich auf Fensterscheiben und Werbeschilder, überzogen die Kuppelgläser der Straßenlampen und die Gehsteige, und binnen weniger Minuten und ohne daß man sich versah, verschluckte man die Insekten, die einem in Mund und Nasenlöcher flogen, die Augen tränten vom Herauswischen abgerissener Flügel und Chitinteilchen, und Vater ließ die Scheibenwischer über das Glas laufen, bis er durch die Schlieren aus zerquetschten Insekten die Straße nicht mehr sah, den Blinker setzte und auf den Rastplatz einbog. Unsere Nachbarn fegten mehrmals am Tag die Gehwege vor den Häusern, die Terrassen und Veranden, sie putzten jeden Morgen die Fenster, um durch die Scheiben in den anderen Gärten nach dem Rechten sehen zu können, aber die Plage hielt an, und nach drei Wochen kehrten auch sie nur noch die toten Fliegen zusammen, so wie Vater, und füllten die Mülleimer damit. Ich mußte pinkeln. Mutter hielt mich über dem Feld ab, ihr Zopf baumelte über ihre Schulter und schlug mir ins Gesicht. Sie setzte mich unter die Bäume in den Schatten, hockte sich ebenfalls ins Gras, zog den Slip wieder hoch, ließ den Rock über die weißen Knie fallen. 10 »Warte hier, ja?« sagte sie, und im Vorbeigehen zupfte sie mir einige Fliegen aus dem Haar. Dann lief sie zum Auto, schaute einmal nach rechts und links, setzte sich mit hochgezogenem Rock auf die Rückbank und schlug die Tür zu. So begann unsere Geschichte. Linas und meine. Sie begann im Juli, im Monat der Schlammfliegen, zwischen den durch den Wind verbogenen Bäumen am Straßengraben und den Hochspannungsmasten, auf deren Leitungen die Vögel schaukelten, auf der anderen Straßenseite ein Traktor, der Furchen in die trockene Erde zog, und das einzige Geräusch, das mir von diesem Moment in Erinnerung geblieben ist, ist das Knirschen von Metall auf Holz. Ich habe Mutters Atemkreise an der Scheibe gesehen, Mutters starren Blick über meinen Kopf hinweg auf einen fernen Punkt weit hinter mir im Feld, aber ich habe außer diesem Knirschen, als der Wagen gegen den Baum links von mir rollte, nichts gehört, während ich mir die Fliegen aus den Augen wischte.

(…)